Traditionell richten wir an einem Sonntag im Januar unseren Neujahrsempfang aus. Diesmal fand er am 26. Januar statt, und zwar wieder in der Burg Wissem in Troisdorf. Rund 35 Mitglieder, Freunde und Interessierte fanden den Weg in den hübschen Raum Wahner Heide, der gelegentlich für Ausstellungen genutzt wird.
Der Vorsitzende, Thomas Preuß, gab in der kleinen Matinee einen Rückblick über das 2024 Erreichte sowie einen Ausblick auf das, was wir in diesem Jahr vorhaben. Die Meilensteine des vergangenen Jahres waren aus Sicht des Vereins das großartige, bunte Sommerfest, die drei Ausflüge für Patenkinder und ihre Wegbegleiter sowie die Workshops für Careleaver, die wir zu den Themen Finanzen und Wohnen sowie Bewerbungen/Jobsuche angeboten hatten. Sie werden übrigens von der Aktion Mensch gefördert.
Beim Ausblick machte der Vorstand deutlich: „Wir werden auch in diesem Jahr allem voran weiter erfolgreich Patenschaften vermitteln – und müssen dafür weitere Spenden- und Fördergelder einwerben!“ Gleich am nächsten Tag ging dann sogar eine großzügige Spende aus dem Kreise der Anwesenden auf unserem Konto ein, über die wir uns sehr gefreut haben. Herzlichen Dank an dieser Stelle!
Anschließend wurden wir von der Musikschule Niederkassel mit mehreren kleinen musikalischen Aufführungen beglückt. So spielten Noelia Incertis Jarillo an der Querflöte und ihr Vater an der Gitarre Stücke von Tilman Susato, Leopold Mozart und Carl Orff. Chaima Tebourski, ebenfalls an der Querflöte, begeisterte an der Seite ihrer Lehrerin Gudula Hufschmidt am E-Piano mit Beethoven und Gluck, und Johannes Bongartz zog an der Gitarre die Anwesenden mit Chet Baker, A.C. Jobim, Willie Nelson und Henry Mancini in seinen Bann.
Nach der Musik griff ganz spontan Raimund Hamacher zum Mikro, der in Köln eine interkulturelle Wohngruppe mit zehn Jungen leitet. Er berichtete von den Brüchen und Traumata der Jugendlichen, ihren kulturellen Hintergründen und ihrem Respekt zum Beispiel vor dem Alter: Viele möchten gern Altenpfleger werden. Einige seiner „Jungs“ würden sich sehr über einen ehrenamtlichen Paten oder eine Patin freuen. Die Anwesenden löcherten ihn noch lange nach seinem Vortrag mit Fragen. Deutlich traten das Interesse und die Bereitschaft zutage, gerade auch jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die hier ohne Familie und ohne Heimat „gestrandet“ sind, auf ihrem Weg in ein glückliches Erwachsenleben zu begleiten.
Interview mit Nils Dornseifer, der über die Friedensdienst-Organisation Eirene ein Jahr lang in den USA einen internationalen Freiwilligendienst leistete. Er sagt, er sei selbstständiger geworden und habe sehr viele neue Erfahrungen gemacht, die ihn sehr bereichern. Eine Idee für alle jungen Leute, die demnächst mit der Schule fertig sind und noch überlegen, was sie danach machen sollen.
Wie kamst du dazu, einen internationalen Freiwilligendienst zu leisten?
Ich bin nach dem Abitur per Interrail durch Frankreich, Italien und Spanien gereist und habe Verwandte in England besucht. Die Zeit im Ausland fand ich sehr cool. Außerdem hatte ich mir zuvor überlegt, ein freiwilliges soziales Jahr leisten zu wollen. Das Angebot von Eirene verknüpfte beides auf beste Weise!
Warum gerade diese Organisation?
Ich fand den gewaltfreien Ansatz dieses Internationalen Christlichen Friedensdienstes und das breite Länderangebot von zehn Ländern auf vier Kontinenten inspirierend. Außerdem wohne ich in Neuwied, wo Eirene die Geschäftsstelle hat. Da lag es nahe, sich das genauer anzuschauen.
Wo warst du letzten Endes und was hast du dort gemacht?
Ich war ein Jahr in den USA, in Little Rock in Arkansas, wo ich bei einem Sommercamp mitgeholfen habe. Dort gibt es auch einen Waldkindergarten und ein Conference-Center für Seminare oder andere Veranstaltungen von sozialen Gruppen. Außerdem betreibt das Camp ein Lagerhaus für die Katastrophenhilfe und eine Warenverteilanlage, bei der Retouren und sonstige Güter von Amazon, Walmart und anderen großen Ketten mit einem sehr hohen Rabatt von durchschnittlich 80 Prozent an Bedürftige verkauft werden.
Kannst Du einmal einen typischen Tagesablauf beschreiben?
Jeder Tag war anders. Dienstags habe ich zum Beispiel im Lagerhaus Pakete inspiziert und verpackt oder im Sharing-the-Goods-Teil die Kunden betreut. An anderen Tagen durfte ich ein bisschen Hausmeister spielen: aufräumen, den Rasen mähen, den Pool reinigen oder Gerätschaften reparieren. Außerdem habe ich viel mit Kindern gearbeitet. Es war super abwechslungsreich.
Nils mit einem Reinigungsroboter am Pool
Wie viele haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende gab es in dem Camp?
Wir hatten zwischen 15 und 20 hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen, die normalerweise von Montag bis Freitag da waren. Außer mir haben dann noch zwei Mitfreiwillige das Team unterstützt. Wir haben auch im Camp gewohnt und waren am Wochenende manchmal dann allein dort.
Welche Erfahrungen haben dich bereichert?
Ich habe sehr viel gelernt. Zum Beispiel hatte ich zu Hause früher kaum mit Werkzeug hantiert, musste im Camp aber das eine oder andere wieder instand setzen. Einmal bin ich mit dem Golf-Cart gefahren, hatte aber vergessen, den Stecker zu ziehen. Der riss also ab, und ich habe mir dann Werkzeug gesucht und das repariert. Diese Selbstwirksamkeit fand ich extrem cool.
Was hast du in deiner Freizeit gemacht?
Ich spiele gern Fußball, hab mir also einen Verein gesucht und bin beim Arkansas Wolves FC gelandet. Die Wölfe spielten in der vierten US-Liga, also semiprofessionell. In Deutschland hatte ich nur in der Kreisklasse gespielt, da war die vierte Liga in Amerika eine ganz andere Nummer: Es gab pro Spiel vier Schiedsrichter, die Kinder kamen nach dem Spiel zu mir und wollten Selfies oder Autogramme …
Mit dem Kanu auf dem Camp-eigenen See …… beim Fußball in der vierten US-Liga …… und vor dem Capitol in Washington D.C.
Gab es kulturelle Hindernisse zu überwinden?
Ich war in den Südstaaten, wo die Uhren anders ticken. Selbst in den Supermärkten trifft man immer wieder auf Leute, die mit Waffen herumlaufen. Das war schon gewöhnungsbedürftig. Aber die Menschen waren alle sehr freundlich und offen, den Austausch fand ich sehr bereichernd.
Gibt es bestimmte Projekte oder Aufgaben, bei denen du das Gefühl hattest, wirklich etwas zu bewirken?
Auf jeden Fall! Ich hatte schon an einigen Stellen den Eindruck, die Welt etwas besser machen zu können. Zum Beispiel fand ich die Arbeit im Lagerhaus sehr sinnstiftend.
Wie darf ich mir die vorstellen?
Es kommen Spenden herein, die als Hilfspakete zum Beispiel für Flüchtlinge oder für Flutkatastrophen gedacht sind. Wir haben die Ware inspiziert, verarbeitet und bei Katastrophen wieder herausgeholt und in das entsprechende Gebiet geliefert. Man sieht, dass man damit direkt helfen kann, und die Unterstützung wird auch wertgeschätzt. Diese Arbeit ist nachhaltig und macht Menschen glücklich – die Betroffenen, aber auch einen selber. Besser geht es eigentlich nicht.
Wie war die Rückkehr für dich?
Schon sehr schwierig. Das ganze Camp ist mir sehr ans Herz gewachsen, ich habe dort wirklich viele tolle Leute kennengelernt. Außerdem habe ich mir ja ein Leben mit bestimmten Routinen aufgebaut: Ich hatte einen sinnvollen Alltag und eine spannende Freizeit, ich habe sogar Kinder im Fußball trainiert, wie ich es zu Hause in Neuwied auch schon getan hatte. Dauerhaft wollte ich dort nicht leben, aber für ein Jahr war es eine perfekte runde Sache.
Wie hast du dich selbst verändert, was hat sich in dir verändert?
Ich denke, ich habe ein Stück weit zu mir selbst gefunden, bin reifer geworden und habe ein eigenes Wesen entwickelt. Zu Hause haben ja die Mitmenschen mit der Zeit ein Bild von einem, dem man dann auch irgendwie entsprechen will. In Little Rock konnte ich dagegen so sein, wie ich wollte. Ich bin heute viel selbstsicherer und selbstständiger. Und ich habe gemerkt: Man muss etwas tun, wenn man etwas erreichen will. Bei mir in der Familie, in Deutschland, war ja irgendwie alles bekannt und geregelt. Aber in den USA musste ich mich erst einmal einfinden und mein Leben selbst organisieren. Dass das gelungen ist, macht mich schon stolz.
Beim Singen von Camp-Liedern
Welche Erkenntnisse hast du noch mitgebracht?
Viel habe ich durch den Perspektivwechsel gelernt: In den USA können sich viele Menschen keine Krankenversicherung leisten und verzichten oft auf Arztbesuche. Auch das Fehlen von Arbeitsrechten auf deutschem Niveau hat mich schockiert. Im Vergleich zu den USA ist das soziale Sicherungsnetz in Deutschland stabiler. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie privilegiert wir sind, und mich gelehrt, die deutschen Sozialsysteme mehr zu schätzen und mich für ihren Erhalt und Ausbau einzusetzen. Auch persönlich habe ich viel gewonnen: Meine Grenzen haben sich verschoben, und ich traue mir jetzt mehr zu. Ich bin selbstbewusster geworden und habe neue Stärken in mir entdeckt.
Haben sich deine Interessen oder Karriereziele durch dieses Jahr verändert?
Ich habe schon immer einen Job im sozialen Bereich angestrebt. So war ich zum Beispiel vier Jahre lang Jugendtrainer im Fußball. Durch das Camp habe ich gemerkt, dass mir soziale Arbeit insgesamt sehr gut gefällt und dass ich gerne international unterwegs bin. Das hat in mir den Wunsch reifen lassen, internationale soziale Arbeit zu studieren. Ich hoffe, dass ich im nächsten Sommer in Schweden damit beginnen kann.
Was würdest du jungen Menschen raten, die einen internationalen Freiwilligendienst anstreben?
Sie sollen sich im Internet auf der Website von Eirene die Auslandsfreiwilligendienste anschauen und Projekte suchen, die zu ihnen passen. Da gibt es ja ganz unterschiedliche Dinge, etwa die Arbeit mit Kindern, mit Obdachlosen oder auch Lobbyarbeit für die unterschiedlichsten Initiativen. Dann schaut man einfach, worauf man Lust hat und bewirbt sich.
Wie lief oder läuft der Bewerbungsprozess bei Eirene konkret ab?
Man muss sich bis Ende Mai 2025 bewerben, wenn man im selben Jahr noch einen Dienst antreten möchte. Ich habe mich zum Beispiel im September vor zwei Jahren beworben und im Oktober die Zusage für den Sommer danach erhalten. Zur Überbrückung habe ich dann gejobbt, um ein eigenes Budget anzusparen. In der Zwischenzeit gab es drei oder vier Online-Info-Seminare von Eirene; außerdem musste ich einen Unterstützerkreis gewinnen, um die Finanzierung von 4500 Euro in Form von Spenden auf die Beine zu stellen.
Was ist, wenn man niemanden findet, um das Spendenziel zu erreichen?
Das ist kein Problem. Einige Freiwillige erhalten weniger Spenden, andere mehr. Insgesamt gleicht sich das bei Eirene aus, so dass niemand aus finanziellen Gründen vom Dienst ausgeschlossen werden muss.
Wie wurdest du danach weiter auf deinen Einsatz vorbereitet?
Für die USA brauchte ich ein Visum. Um dieses musste ich mich in der Botschaft in Frankfurt bewerben und von den Kosten 100 Euro selbst tragen; den Rest hat Eirene übernommen. Im Mai gab es ein Vorbereitungswochenende und im Juli einen zweiwöchigen Kurs für alle Freiwilligen, die in dem Zeitraum Juli/August im globalen Norden einen Freiwilligendienst begonnen haben, das heißt in Europa, Kanada und den USA. Dort wurden zum Beispiel kulturelle und persönliche Themen besprochen.
Welche Kosten kommen auf jemanden zu, der so etwas anstrebt?
Bei Eirene wird eigentlich für alles gesorgt. Ich musste nur den Teilbetrag für das Visum selbst tragen, aber Versicherung, die Flüge, die Wohnung werden übernommen. Dazu gibt es eine Verpflegungspauschale und noch ein Taschengeld. Man kann davon zwar nicht jeden Abend auswärts essen gehen, es reicht aber völlig zum Leben. In dem Camp gab es auch eine eigene Küche, so dass ich sogar noch etwas übrig hatte von dem Geld, das mir zur Verfügung gestellt wurde.
Eirene ist ja eine christliche Organisation. Musst du Christ sein, um solch ein freiwilliges Jahr absolvieren zu dürfen?
Nein, absolut nicht. Eirene ist offen für alle Religionen und Weltanschauungen.
Wie würdest du das Jahr für dich in drei Worte fassen?
Viele – neue – Erfahrungen! Natürlich kann nicht immer alles perfekt laufen, aber selbst, wenn irgendetwas nicht so gut ist, sind die Erfahrungen, die man macht, doch immer wertvoll!
Vielen Dank, lieber Nils, für deinen spannenden Bericht!
Mitte Oktober veranstaltete der Kölner Kreidekreis seinen zweiten „Runden Tisch: Careleaver“. Thematisch ging es um die Situation von Careleavern im Rheinland – gute Ansätze und Versorgungslücken – sowie den aktuellen Stand unseres von der Aktion Mensch geförderten Patenschafts-Projektes.
„Ich spare an meinem Schlaf“, sagt Charlotte Ernst, pädagogische Mitarbeiterin im Kinder- und Jugenddorf Bethanien in Bergisch Gladbach. Dieses Statement äußerte die Erzieherin im Rahmen des Runden Tisches des Kölner Kreidekreises, der im Oktober im Eltzhof in Porz-Wahn stattfand. Damit verdeutlichte sie anschaulich die Herausforderungen und Folgen des herrschenden Fachkräftemangels in der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Beteiligten des Runden Tisches, der sich mit den Bedarfen von Careleavern befasste, kamen aus Wohngruppen, von Trägergesellschaften, aus dem Paritätischen, der Politik und von Kommunen oder waren selbst Careleaver. In der Runde befand eine Mehrheit, dass das professionelle Personal oft an der Grenze zur persönlichen Ausbeutung arbeite, was nicht gesund sei.
Charlotte Ernst, Kinder- und Jugenddorf Bethanien
Raimund Hamacher
Anja Lehmann, Jugendamt Niederkassel
Heike Jüngling, Sozialdezernentin in Königswinter
„Man muss sich wirklich gut organisieren“, betonte Ernst. Dabei habe die Arbeit mit den Kindern, in ihrem Falle Mädchen in einer Verselbstständigungsgruppe, immer Vorrang vor organisatorischen Dingen. „Zum Teil verzichten wir sogar auf eigentlich wichtige Schulungen“, beklagte sie. Das bestätigte Raimund Hamacher, Teamleiter einer interkulturellen Wohngruppe in Köln-Ostheim. Er befand zudem, eine Teamleitung gerate selbst in der Freizeit häufig noch unter Druck, um zum Beispiel Schichten nachzubesetzen, wenn sich Teammitglieder krankgemeldet hätten.
Anja Lehmann vom Jugendamt Niederkassel sieht auch den kommunalen Bereich, insbesondere den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), vom Personalmangel betroffen. Sie greife gerne auf das Angebot des Kölner Kreidekreises sowie allgemein von Ehrenamtlichen zurück, da hier den Kindern und Jugendlichen Unterstützung weit über die Möglichkeiten der öffentlichen Jugendhilfe hinaus geboten würde, sagte Lehmann: „Die Wegbegleiter-Patinnen und -Paten des Kölner Kreidekreises stellen eine wichtige Konstante im Leben der Kinder dar, die im professionellen Bereich über viele Jahre so gar nicht darstellbar wäre!“ Diese Angebote, auch wenn entlastend, sähen sie und ihre Kolleginnen gleichwohl nur ergänzend, weil es ja immerhin einen gesetzlichen Auftrag gebe, das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu stellen.
Doch diesen zu erfüllen, tun sich viele Jugendämter immer schwerer, pflichtete Heike Jüngling bei. Die Sozialdezernentin der Stadt Königswinter unterstrich: „Die kommunalen Haushalte platzen; im Sozialbereich explodieren gerade insbesondere die Kosten für Unterbringungen.“ Es grenze oft schon an ein Wunder, wenn für junge Leute, die ihre Wohngruppe verlassen müssen, überhaupt eine Unterkunft gefunden werden könne. Dabei dürften die Kommunen aus ihrer Sicht in der Kinder-und Jugendhilfe nicht nur aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht am verkehrten Ende sparen: „Frühzeitige Prävention und eine gelingende Integration von Careleavern in die Gesellschaft sparen später viel Geld!“ Dann nämlich, wenn den jungen Menschen der Weg ins Arbeitsleben glückt und sie nicht auf kommunale oder staatliche Transferleistungen angewiesen sind.
Teilnehmer der Runden Tisches 2024 des Kölner Kreidekreises: Samina Imam, Der Paritätische NRW; Ute Wiedemeyer, Geschäftsführerin des Kölner Kreidekreises; Jan Seefeldt, Evangelische Jugendhilfe Godesheim; Katja Broicher-Küster, CJG Hermann-Josef-Haus in Bonn; Lukas Dreesbach, Careleaver e. V.; Heike Jüngling, Sozialdezernentin der Stadt Königswinter; Regina Polkow und Charlotte Ernst, Kinder- und Jugenddorf Bethanien; Anja Lehmann, Jugendamt Niederkassel; Thomas Preuß, Vorstand des Kölner Kreidekreises (von links)
Wie der Weg in die Selbstständigkeit für Careleaver gelingen kann – und wie sehr es dabei auf persönliche, verlässliche Verbindungen ankomme, deutete Charlotte Ernst vom Kinderdorf Bethanien an. Sie räumte ein, dass die Beziehung der Betreuerinnen und Betreuer in den Wohngruppen insbesondere zu etwas älteren Jugendlichen oft leide, weil diese ihre Betreuer nur noch als Kontrollinstanz sähen: „Für persönliche Gespräche bleibt im Alltag oft viel zu wenig Zeit. Dabei wäre eine gute Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen sehr wichtig, damit sie sich auch nach Verlassen der Wohngruppen positiv an die Einrichtung erinnern und bei Fragen auf ihre ehemaligen Betreuerinnen und Betreuer zurückkommen.“ Wenn sie das Gefühl hätten, rausgeworfen worden zu sein, fänden die Jugendlichen ihren Weg in die Selbstständigkeit bei etwaigen Herausforderungen nicht so leicht, wie es der Fall wäre, wenn sie auf eine intakte Beziehung zu einer Betreuerin, einem Paten oder einer Patin des Kölner Kreidekreises zurückgreifen könnten.
Unter dem Motto „Ich bin ich, und so bin ich genau richtig“ haben wir am 1. September unser Sommerfest gefeiert, das als Projekttag von der AktionMensch gefördert wurde. Über 80 Kinder, Jugendliche und Careleaver, Patinnen und Paten sowie Hauptamtliche aus den Wohngruppen waren nach Bergisch Gladbach gekommen, um gemeinsam einen schönen Tag zu verleben.
Der Renner war diesmal die Cocktail‐Bar, die wir erstmals angeboten hatten. Projektleiterin Elena Stuffer hatte drei Cocktails zur Auswahl gestellt, die natürlich alle ganz alkoholfrei waren. Zum Teil mussten spontan bis zu drei weitere Barkeeperinnen einspringen, um den Ansturm zu bewältigen.
Begeistert waren alle wieder von der traditionellen Spiele‐Olympiade. Dabei durften die Kids mit Wasserpistolen auf Becher schießen, Fußball und Hockey spielen, mussten Luftballons in der Gruppe möglichst lange in der Luft halten und beim Zwergenlauf zeigen, wer am längsten in der Hocke rennen kann.
Als musikalischen Mitmach-Höhepunkt hatte Geschäftsführerin Ute Wiedemeyer eine Body-Percussion-Übung organisiert, bei der unter professioneller Anleitung von Kay Siepmann mit Händen und Füßen musiziert wurde.
Wie immer wurde es ein besonders leckeres Fest, weil ganz viele Patinnen und Paten bunte Salate und Kuchen mitgebracht hatten. Und dank zahlreicher helfenden Hände beim Auf- und Abbau, bei der Spiele-Organisation oder am Grill ging alles reibungslos vonstatten.
Wie schreibe ich eine Bewerbung, wie bereite ich mich auf ein Bewerbungsgespräch vor? Wie präsentiere ich mich – ob persönlich oder über Social Media –, meine Fähigkeiten und meine Motivation so, dass ich mein Gegenüber überzeugen kann?
Diese Fragen, die sich im Vorfeld einer Ausbildung oder Jobsuche erheben, stehen im Mittelpunkt unseres kostenlosen Workshops für Careleaver und junge Menschen, die bald ihre Wohngruppe verlassen müssen oder schon verlassen haben. (Und sie werden auch beantwortet, also, die Fragen!)
Der Workshop geht einen ganzen Tag und findet am Samstag, den 23. November 2024 im Bürgerzentrum Engelshof in Köln-Porz-Westhoven statt. Details findet Ihr weiter unten sowie auf unserer Termine-Seite.
Die Teilnehmer*innen werden aktiv eingebunden und können auf Wunsch ihre persönlichen Unterlagen mitbringen, zum Beispiel Stellenausschreibungen oder Lebensläufe, an denen wir dann gemeinsam arbeiten können.
Der Workshop richtet sich an junge Leute zwischen 16 und 27 Jahren. Wir können ihn kostenlos anbieten, da unser aktuelles Projekt – in dem wir ehrenamtliche Patenschaften für Careleaver vermitteln und die Alltags- und Daseinskompetenzen der jungen Menschen stärken wollen – von der Aktion Mensch gefördert wird. Die Teilnahme ist auf 15 junge Menschen (ggf. plus Betreuer*innen) begrenzt.
Wir planen aktuell weitere Workshops, zum Beispiel zum Themenfeld Haushalt/Energie. Zu Finanzen und Wohnen bieten wir derzeit am 10. Mai und am 13. September 2024 sowie am 2. Mai 2025 eigene Workshops an.
Workshop Ausbildung und Jobsuche:
WANN: Samstag, 23. November 2024, 9.00 bis 17.00 Uhr
Am 10. Mai bieten wir zum ersten Mal einen Workshop zum großen Themenfeld Finanzen und erste eigene Wohnung an: Was kostet das Leben, wenn man sich selbst um alles kümmern muss? Wie (und wieso) sollte man sein Budget im Blick haben – also wissen, wie viel Geld man jeden Monat auf das Konto bekommt und wofür man es ausgeben kann. Was passiert, wenn ich Rechnungen nicht bezahle? Wie funktioniert ein Girokonto und wieso wird es auf einmal so teuer, wenn ich ins Minus komme?
Dann: Wie finde ich eine Wohnung? Welche Rechte und Pflichten habe ich als Mieter? Was steht im Mietvertrag, was ist eine Kaution, was der Unterschied zwischen Kalt- und Warmmiete? Wo kann ich Wohngeld beantragen? Darf ich laute Partys in meiner Wohnung feiern und was passiert, wenn ich etwas kaputtmache?
Die Antworten auf diese und noch viele weitere Fragen erarbeiten unsere Teilnehmer*innen in diesem neuen Workshop, den wir zusammen mit der Verbraucherzentrale NRW kostenlos anbieten.
Der Workshop richtet sich insbesondere an sogenannte Careleaver, das sind junge Menschen, die in einem Kinderheim wohnen oder aufgewachsen sind und ihre Wohngruppe gerade verlassen haben oder bald verlassen müssen. Ihnen wollen wir den Schritt in die Selbstständigkeit erleichtern: durch Patenschaften mit ehrenamtlichen Wegbegleitern und Wegbegleiterinnen sowie durch gemeinsame Aktionen und Workshops, die wir für die jungen Menschen anbieten.
Wir planen aktuell weitere Workshops, und zwar zu den Themen Bewerbung/Ausbildung/Jobsuche, Haushalt/Energie sowie Gesundheit/Hobbys.
Workshop Finanzen und Wohnen:
WANN: Freitag, 10. Mai 2024, 13.00 bis circa 18 Uhr
PAUSENSNACK: Wir bestellen in der Pause Pizza oder Pasta. Getränke stehen auch bereit.
Anmeldung bitte bis 8. April 2024 per E-Mail an info@koelnerkreidekreis.de. Rückfragen beantwortet unsere Projektleiterin Elena Stuffer unter 02208/911705.
Lukas Dreesbach ist Careleaver und Ansprechpartner der Regionalgruppe NRW des Careleaver e.V., mit dem der Kölner Kreidekreis im neuen Projekt der Aktion Mensch kooperiert. Was Careleaver brauchen und welche Träume er hat, erzählt er in unserem Interview.(Careleaver sind junge Menschen im Alter von etwa 16 bis 27 Jahren, die in einem „Kinderheim“ gelebt haben und mit der Volljährigkeit die Kinder- und Jugendhilfe verlassen müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen.)
Stell bitte einmal kurz Euren Verein vor.
Lukas Dreesbach: Der Careleaver e. V. ist eine selbstorganisierte Interessenvertretung von Careleavern für Careleaver. Wir bieten unseren Mitgliedern ein Netzwerk für den Austausch untereinander – und sind politisch aktiv. So erstellen wir zu bestimmten Themen Positionspapiere, sind in Anhörungen und Ausschüssen vertreten. Damit wollen wir das Bild von Careleavern in der Öffentlichkeit positiv verändern und Careleavern den Weg in die Selbstständigkeit erleichtern.
Du wirst bald 24 und lebst seit einigen Jahren in einer eigenen Wohnung. Wann und warum bist Du seinerzeit in ein „Heim“ gekommen?
Ich bin eigentlich gut behütet in einem Dorf am Rande des Siebengebirges aufgewachsen. Meine Eltern waren beide schwer krank und konnten sich mit dem Fortschritt ihrer Krankheiten immer weniger um mich kümmern. Auf der anderen Seite bekam ich Probleme in der Schule durch mein auffälliges soziales und pubertierendes Verhalten. Ich erinnere mich heute noch an einen Kommentar meiner Kunstlehrerin in der vierten Klasse: „Das Bild ist so hässlich, das kannst du nicht einmal auf der Toilette aufhängen.“ Daraufhin habe ich mit Farbtöpfen um mich geworfen und bin weggerannt. Diese Probleme zogen sich dann weiter bis in die fünfte Klasse der Realschule.
… und dann kam sicher irgendwann das Jugendamt?
Ich weiß nicht mehr genau, wie es ablief. Mit elf Jahren kam ich für ein halbes Jahr in eine Tagesklinik, danach war ich von Montag bis Freitag, für fünf Jahre, in einer Intensivgruppe auf dem Venusberg. Später kam ich in eine Wohngruppe in Königswinter, dort war ich insgesamt drei Jahre. Heute habe ich eine eigene kleine Wohnung, die nur ein paar Schritte entfernt von meiner alten Einrichtung liegt.
Wie wurdest Du auf dem Weg in die Selbstständigkeit begleitet?
Im Prinzip wurde ich in jeder Einrichtung unterstützt, jede pädagogische Fachkraft hat mich auf ihre Weise geprägt. Ich hatte zum Beispiel mal eine Betreuerin, die sehr autoritär war, aber immer an mich geglaubt hat. Sie wusste auch in kritischen Momenten immer, wie sie mit mir umzugehen hatte. Und sie hat mir erst meinen Humor beigebracht.
Eine große Unterstützung während des Übergangs in meine erste eigene Wohnung war meine letzte Bezugsbetreuerin. Sie hat mir bei der Wohnungseinrichtung geholfen, mit den Möbeln und dem WLAN und mir erklärt, wie ich meine Ablage zu organisieren habe: dass man Bankauszüge und Briefe von Behörden abheften muss zum Beispiel. Sie kam noch eine ganze Weile regelmäßig vorbei und hat mich immer ernstgenommen. Ich hatte echt großes Glück mit ihr.
Wurdest Du auch von Deiner Familie unterstützt, habt Ihr noch Kontakt?
Meine Eltern, vor allem meine Mutter, waren immer für mich da. Ich wollte sie damals aber nicht allzu sehr mit meinen Problemen belasten, da sie ja genügend eigene hatten. Meine Mutter ist inzwischen gestorben, mein Vater lebt heute in einem Pflegeheim. Aber mein Patenonkel und seine Familie, meine Großmutter, Patentante und auch ein paar Freunde haben mich immer unterstützt.
Was hat Dir in Deiner Kindheit am meisten gefehlt?
Klingt komisch, aber ich hätte gern einen kleinen Bruder gehabt. Keine Ahnung wieso. Mir fehlte auch immer eine richtige Jungen-Peergroup. Ich wurde aufgrund meines Aussehens und meiner Biografie oft gemobbt und ausgegrenzt. In der Grundschulzeit hatte ich nur einen richtigen Freund, bei dem ich immer willkommen war. Leider konnte ich diese Freundschaft erst Jahre später wertschätzen.
Und was fehlt Dir jetzt?
Meine Mutter fehlt mir schon noch. Und in meiner eigenen Wohnung fühle mich öfters mal einsam. Das Leben in den Einrichtungen empfand ich als recht turbulent, wie in einer großen Patchwork-Familie. Das war manchmal anstrengend, aber es gab natürlich auch lustige und schöne Momente. Mein schönstes Erlebnis war, als ich beim 1. FC Köln mit einlaufen durfte. Ich denke, neben dem stigmatisierenden Image des „Heimes“ ist die Einsamkeit für viele Careleaver eines der größten Probleme. Deshalb finde ich das Angebot des Kölner Kreidekreises so toll, den Careleavern über Patenschaften Vertrauenspersonen an die Seite zu stellen!
Du meinst, einfach jemanden, der mal zuhört?
Vor allem jemand, der für einen da ist. Einige Careleaver haben ein ziemliches Redebedürfnis, wenn sie die Jugendhilfe verlassen müssen. In der eigenen Wohnung sind sie meistens allein, haben oft niemanden mehr. Das fördert natürlich Ängste. Viele Careleaver tun sich aufgrund ihrer Erfahrungen auch schwer, jemandem zu vertrauen. Sie driften dann in Depressionen ab – oder kriegen noch schlimmere Probleme.
Wie sollten denn die Menschen sein, um Careleavern eine Stütze zu sein?
Die jüngeren Menschen brauchen meiner Meinung nach vor allem Familienfiguren zur Identifikation, wie Mutter, Vater, Onkel oder Tante. Eine starke Schulter zum Anlehnen; jemanden, der sie fördert, ihnen beisteht, zuhört. Die Älteren brauchen vor allem Gleichaltrige, die sie verstehen. So nach dem Buddy-Prinzip …
Das ist eine Art der gegenseitigen Absicherung, die man aus der ärztlichen Ausbildung oder vom Sporttauchen her kennt …
Es ist einfach gut, immer einen zuverlässigen Begleiter an seiner Seite zu haben, einen „Buddy“ eben. Durch das neue Projekt ergänzt der Kreidekreis die bisherigen gesellschaftlichen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sehr gut. Denn für die jungen Menschen, die sich im Übergang zur Selbstständigkeit befinden, wird noch viel zu wenig getan.
Inzwischen hast Du selbst eine Ausbildung zum Kinderpfleger gemacht und nun den Erzieher draufgesattelt. Kinder liegen Dir also selbst am Herzen?
Absolut. Kinder sind unsere Zukunft. Natürlich hat mich meine eigene Biografie beruflich geprägt. Ich versuche immer, Kinder so zu nehmen, wie sie sind, und die positiven Seiten zu sehen. Jedes Kind hat seine Biografie, die versuche ich zu verstehen und zu begleiten. Ich möchte, dass sie zu zuversichtlichen, selbstständigen und selbstbewussten Menschen werden.
Was war Dein schönstes Erlebnis in der Kita?
Das war ein Junge aus der Gruppe der Vorschulkinder. Ich war noch gar nicht lange da, aber als alle Kinder gefragt wurden, mit wem sie am liebsten ihre Schultüte basteln wollten, hat er gesagt: „Mit Lukas!“ Das hat mich sehr berührt.
Im Übrigen muss ich mich auch bei der Kitaleitung und dem ganzen Team bedanken, bei dem ich mein FSJ und jetzt das Anerkennungsjahr als Erzieher absolviert habe beziehungsweise absolviere. Dort haben mich alle in meinem beruflichen Werdegang immer super unterstützt.
Wovon träumst Du?
Träume habe ich viele, vor allem drei Dinge: Erstens wünsche ich mir ein glückliches Leben mit einer eigenen Familie und Kindern. Zweitens will ich auf jeden Fall eines Tages alle 47 Länder Europas bereist haben. 31 habe ich schon. Und drittens will ich einen Tanzkurs machen, ich tanze total gern. Cha-Cha, Walzer, Discofox … Für einen Kurs fehlt mir momentan leider eine Tanzpartnerin. Aber vielleicht klappt es ja noch, und dann sieht man mich eines Tages bei „Let’s Dance“ (grinst)!
Was ist dein Appell an unsere Leserinnen und Leser?
Die Gesellschaft sollte mehr Verständnis für unsere Biografien aufbringen. Menschen sollten sich grundsätzlich mehr Zeit füreinander nehmen, um sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen und sie anzuhören – und diese auch zu akzeptieren. Ich denke, das würde manches Handeln erklären und könnte viele Probleme lösen.
Vielen Dank für Dein offenes Gespräch, lieber Lukas!